„Die Festung Europa muss geschleift werden“
Leidenschaftliches Plädoyer von Bischof Hein für eine veränderte Flüchtlingspolitik in der Europäischen Union
Von Karl-Günter Balzer
Marburg. Es sollte um die ideellen Werte in der Europäischen Union gehen. Auf dem Podium in der Alten Aula der Philipps-Universität saßen am vergangenen Mittwoch (3.12.) deren Präsidentin Prof. Dr. Katharina Krause, der Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck Prof. Dr. Martin Hein, Hessens Finanzminister Dr. Thomas Schäfer und von der Deutschen Bundesbank Dr. Manfred Scheuer, um unter der Moderation von Alois Theisen, dem Chefredakteur des Hessischen Rundfunks über ebendiese Werte zu diskutieren. Über weite Strecken ging es dann aber um den Euro und den derzeitigen Zustand der Gemeinschaft.
Bischof Hein lenkte zunächst den Blick auf die Entstehung der europäischen Idee in der Mythologie und auf den Beginn der Christianisierung durch den Apostel Paulus. Das Christentum habe sich zum einigenden Band einer europäischen Idee entwickelt. Die Vision eines geeinten Europas auf der Basis der Menschenrechte habe einen christlichen Ursprung. Auch wenn die moderne europäische Identität nicht mehr vom Christentum bestimmt sei, sei es doch Aufgabe der Kirchen, das christliche Erbe als einen lebendige Gestaltungskraft geltend zu machen und in den europäischen Diskurs einzubringen. Dies gelte z. B. in Fragen des sozialen Ausgleichs, in der Angst vor einem entfesselten Kapitalismus und in der aktuellen Flüchtlingsproblematik. Noch beeindruckt von einem Besuch im Libanon („Dort nehmen vier Millionen Einwohner eine Million Flüchtlinge auf“) forderte Hein eine Veränderung der europäischen Haltung gegenüber Menschen auf der Flucht: „Die Festung Europa muss geschleift werden.“ Dieser Satz führte zu den einzigen Beifallsbekundungen an diesem Abend aber auch zu kritischen Rückfragen in der Diskussion.
Dass die Universität längst in einem internationalen Kontext stünde, der über Europa hinausgehe, führte Präsidentin Krause aus. Man arbeite mit insgesamt 47 Staaten zusammen. Die EU sei auf den Trümmern des Zweiten Weltkrieges gegründet worden und stehe für ein einzigartiges Friedensprojekt, das dem Kontinent Wohlstand, Freiheit und die Achtung demokratischer Grundsätze gebracht habe. Die Universitäten hätten dabei als Brückenbauer wesentliche Beiträge geleistet.
Finanzexperte Scheuer lobte den Erfolg der EU: Bürger und Unternehmen profitierten von ihrer schieren Marktgröße. Die einzelnen Staaten hätten alleine kaum eine Möglichkeit gegen die USA oder gegen internationale Konzerne wie Microsoft und Google zu bestehen. Und der volkswirtschaftliche Nutzen der Gemeinschaft liege weit über den Mitgliedsbeiträgen der Staaten. Kritisch sah Scheuer dagegen den Zustand der gemeinsamen Währung. Auf der positiven Seite habe der Euro für stabile Preise und Wechselkurse, sowie Erleichterungen beim Reisen gesorgt. Andererseits sei der Euro von Anfang an ein politisches Projekt gewesen, dem aber eine staatliche Autorität im Hintergrund fehle. Ein Scheitern der gemeinsamen Währung wollte Scheuer nicht ausschließen. Dies sei dann sicher ein massiver Rückschlag für den europäischen Gedanken, aber es würde nicht zum Scheitern der Union führen.
Finanzminister Schäfer erinnerte an die Bedeutung des vereinigten Europas zur Verhinderung von Kriegen in der Vergangenheit. Nicht die Idee von einem gemeinsamen Europa werde von den Menschen in Frage gestellt, sondern manches am Erscheinungsbild der Brüsseler Verwaltung. Ein Scheitern des Euro würde zu einem wesentlichen Verlust der europäischen Identität führen. Europa sei auch in Zukunft eine Frage von Krieg und Frieden.
Einig waren sich alle Diskutanten, dass die Zukunft Europas nicht im Zusammenwachsen zu einem Bundesstaat liege. Das würde die Menschen überfordern und ihnen das Gefühl geben, ihre Heimat zu verlieren. Stattdessen sei einerseits eine vertiefte Integration wünschenswert, der auf der anderen Seite eine Stärkung der Regionen entsprechen müsse. Zu prüfen sei auch, welche Aufgaben besser durch Brüssel oder die Mitgliedsstaaten vor Ort geleistet werden könnten. (04.12.2014)